Experience 112 startet einfach großartig. Das Startmenü empfängt einen bereits mit wohliger Tiefseeatmosphäre, eine freundliche Computerstimme spielt Entspannungsanweisungen ab – fast so, als hätten wir uns eine Relax-DVD von Amazon geordert und nicht das Third-Person Adventure der französischen Entwickler von Lexis Numeriqué.

Nach einem kurzen Renderintro empfängt uns ein karger Computerdesktop mit einem einsamen offenen Fenster, im Hintergrund sehen wir eine Montage von Blaupausen eines Schiffes. Das Fenster zeigt uns den Livefeed einer Überwachungskamera, gerichtet auf die Protagonistin, welche noch friedlich in ihrer chaotischen, von Pflanzen überwucherten Kabine schlummert. Nach ein paar Sekunden erwacht die Dame und ist ebenso orientierungslos wie wir. Sie hat allerdings sehr wohl im Blick, dass da jemand durch die Kamera blickt, wovon sie erstmal wenig begeistert ist. Dann stellt sie fest, dass sich derjenige am anderen Ende ziemlich dumm anstellt und schließt daraus ganz treffend, dass der Spieler noch weniger als sie einen Schimmer davon hat, was vor sich geht.

Nach wenigen Minuten hat man sich mit der Frau namens Professor Lea Nichols auf die Basics geeinigt. Mit einer Links-Rechts-Bewegung deutet man ein „Nein“ an, mit Oben-Unten ein „Ja“. Licht an oder aus oder das Aktivieren von sonstigen Objekten auf der Übersichtskarte heißt „mach hier mal was“. Über das Computerinterface der schwimmenden Forschungsbasis kann der Spieler (passwortgeschützte) Benutzerprofile des Personals abrufen, mit dem passenden Satz an (wiederum geschützten) Dateien und E-Mailverkehr. Ganz richtig gelesen, die Steuerung der Protagonistin erfolgt rein indirekt, was Lea macht oder sein lässt, ist rein ihre Sache.

Klänge und Lichter

Die Umgebungen sind liebevoll angelegt, nur ein wenig polygonarm und nicht besonders hochauflösend texturiert. Auch die Soundkulisse ist sehr in Ordnung. Die meiste Zeit wird man von einem sehr stimmungsvollen Soundteppich aus Umgebungsgeräuschen begleitet, der zu bestimmten Gelegenheiten von mal mehr, mal weniger passenden Musikstücken ergänzt wird.

Professor Nichols kam mir übrigens gleich bekannt vor und ein Blick auf die Spielepackung verriet auch warum. Ranja Bonalana leiht ihr die Stimme – die Synchronsprecherin von Kate Austin aus Lost. Uh, wenn Kate aaf den Plan tritt, tendieren die Dinge dazu kompliziert zu werden.

Ein Haufen guter Ideen, die einfach nicht funktionieren

Während wir die ersten Decks des gestrandeten Tankers erforschen, auf dem Kate, äh Lea als Wissenschaftlerin tätig war, schalten wir vorsichtig von Kamera zu Kamera und suchen jeden Meter nach möglichen Gefahren ab. Erst dann wagen wir es, die Protagonistin in ein neues Gebiet lotsen. Sobald wir raushaben, dass die Spielumgebung größtenteils gefahrlos durchquert werden kann, knickt die Spannung allerdings schnell ein. Auf der Übersichtskarte Hotsports abklappern ist auch viel weniger Arbeit, als ständig die drei möglichen Kamerafenster nachzujustieren.

Für ungeduldige Naturen ist Experience 112 ungeeignet – die Umgebungen sind weitläufig und Frau Professor eher gemütlich unterwags. Das ist den Spieldesignern durchaus bewusst gewesen, ansonsten hätte mich Lea ja nicht schon einmal direkt vorgewarnt, dass sie jetzt erstmal ein paar Minuten für den Weg braucht und ich mir solange mal die Personalakten anschauen soll. Gute Idee – deswegen habe ich das auch schon vor einer Stunde gemacht, als ich gerade ein paar neue Passwörter ausgeknobelt hatte. Spaß macht auch immer wieder, versehentlich den Gebietswechselschalter zu aktivieren und erstmal den Ladebildschirm zu bewundern. Zweimal, denn man muss ja wieder in das Ursprungsgebiet zurück.

Einige Ansätze, eine glaubhafte Interaktion zwischen Spieler und Protagonistin herzustellen, tragen erst richtig dazu bei, dass man sich wie in einem Videospiel fühlt. In den ersten Spielminuten spricht euch Lea „durch“ die Kamera an, was gleich für dichte Atmosphäre sorgt. Gewöhnen darf man sich nur nicht dran – denn Frau Professor dreht den Kopf nicht wirklich immer automatisch zur aktiven Hauptkamera. Falls sie nicht mit starren Blick nach vorne spricht, schaut sie garantiert in die Kamera, die nichtmal in einem der kleineren Nebenfenster aufgerufen ist. Wenn Lea partout eine Geste nicht verstehen will, liegt das auch oft einfach nur daran, dass wir mit der falschen Kamera nicken.

Das Spiel merkt sich auch, wie lange wir nicht mehr vorbeigeschaut haben. Nach dem Laden eines alten Spielstands kriegt ihr tatsächlich erstmal Mecker. „Über eine Woche kein Lebenszeichen von dir – ich wäre fast verrückt geworden, ich brauche dich!“ Wow, toll dass die Entwickler an so ein Detail gedadacht haben haben und… Lea in der ganzen Zeit auf dem gleichen Milimeter stehengeblieben ist, statt zurück in ihre Kabine zu gehen oder sich zumindest hinzusetzen. Si tacuisses, philosophus mansisses.

Ein Haufen guter Ideen, die doch funktionieren

Trotz der auf den ersten Blick limitierten Interaktionsmöglichkeiten hat Experience 112 genug Abwechslung jenseits reiner Fetchquests zu bieten und die Lernkurve ist ordentlich. Die Kamera des Spielers wird nach und nach aufgepimpt mit Nachtsicht, Wärmesicht, Zoom, Autofokus und sogar einem Pheromonupgrade. Ab und an gibt es auch Drohnen und Fahrzeuge mit direkter Steurung, wobei man besonders in den Tauchabschnitten gerne mal die Übersicht verliert und keinen Plan hat, was man überhaupt tut.

Lea hat in solchen Situationen auch nicht viel beizutragen, ausser einen zu fragen, ob man das Computersystem denn immer noch nicht verstanden habe, oder dass sie ihre momentane Lage unbequem findet und man sich doch bitte beeilen soll. An einem Punkt habe ich tatsächlich laut „Halt doch einfach die Klappe, Kate!“ geschrien. Naja, meine Nachbarn wissen das schon einzuordnen.

Das große Krabbeln

Selbst für die Tatsache, dass wir hier ein PC-Spiel haben, läuft man doch recht vielen Bugs über den Weg. Dabei rede ich nichtmal von den vielen kleinen Darstellungsfehlern der Engine, sondern tatsächlichen Macken im Spielgeschehen. Schon in der ersten Spielstunde bin ich an der Bedienung eines Roboters verzweifelt, bis ich darauf kam, dass es vielleicht gar nicht an mir liegt, dass das verdammte Ding nicht auf Eingaben reagiert. Das Spiel nochmal neugestartet und é voila – Kollege Roboter lief wie geschmiert. Es zählt ja keiner mit, aber es ist mir sicher sieben oder achtmal passiert, dass ich in einer abgebrochenen Skriptsequenz feststeckte. Versucht erstmal zu erkennen, dass die Protagonisting ihren Einsatz verpasst hat, wenn es keine direkte Steuerung gibt. Das Menü funktioniert, die Kameras funktionieren, man kann Lichter an und aus machen, bis der Finger abfällt, aber Frau Professor bleibt wie am Boden festgedübelt. Save early, save often.

Ausblick in die Zukunft

Experience 112 ist kein schlechtes Spiel, aber zu sperrig, um es ohne Bauchschmerzen empfehlen zu können. Für den, der keinen Spaß an der Spielmechanik finden kann, wird die Story um den sabotierten Supertanker und den geheimen Experimenten an Menschen und Tyraniden, einer bisher unbekannten intelligenten Lebensform, einfach nicht genug Anreiz sein, um sich bis zum Finale durzubeissen. Experimentierfreudige Adventureliebhaber mit begrenztem Budget können Experience 112 inzwischen für 10 Euro am Amazon-Grabbeltisch mitnehmen.

Was mich wirklich glücklich machen würde wäre, in den nächsten Jahren die frischen Ideen der französischen Entwickler in A- und AAA-Produktionen wiederzufinden. Ohne die Brennesseln und spitzen Steine macht es sicher richtig Spaß, fernab ausgetretener Genrepfade zu wandeln.