Lautlos und behutsam schleiche ich durch das dichte Gestrüpp, lauere den Bewohnern des kleinen Dorfes auf. Wie fröhlich sie sind! Sie bereiten sich auf eine Geburtstagsparty vor; stellen den Grill auf, backen Kuchen, richten eine Tanzbühne ein und geben sich unbesorgt ihrer Vorfreude hin. Ich verbringe lange Zeit damit, sie einfach nur zu beobachten. Betrachte jeden Schritt, den sie tun, beobachte jedes Detail ihres Treibens. Sie haben ja keine Ahnung.
Dann entdecke ich den Stromkasten. Als sich keiner in der Nähe befindet, schleiche ich mich vorsichtig heran und kappe die Leitungen. Sofort fällt in dem zugehörigen Gebäude der Strom aus. Ich verstecke mich wieder im Gestrüpp, als der Hausbewohner aufgeregt nach draußen läuft und den sabotierten Stromkasten entdeckt. Er nimmt sich Werkzeug zur Hand und macht sich gleich an die Reparatur. Diese Gelegenheit muss ich nutzen: Ich springe aus meinem Versteck und stoße den Kopf meines Opfers hart in den Stromkasten. Der unter Stromschlägen zuckende Körper fällt zu Boden. Dies ist nur der Anfang meines Rachefeldzuges. Auch die anderen Teddybären müssen bezahlen!

Teddybären? Richtig gelesen. Was sich zunächst liest wie ein ultra-brutalo-Spiel wie Manhunt mit richtigen Menschen, ist ein ultra-brutalo-Spiel wie Manhunt – nur mit Teddybären. Und das ist an sich schon eine so bizarre Idee, dass „Naughty Bear“ allein deswegen bereits besondere Aufmerksamkeit verdient hat. Im Spiel übernehmen wir die Rolle von Naughty, einem Bären, der kein gepflegtes Fell und einige Narben hat. Das ist offenbar auch der Grund, weshalb sich alle anderen Bären auf der Insel gegen ihn verschwören. Sie lachen ihn aus, laden ihn nicht zur Geburtstagsparty ein oder starten Werbekampagnen gegen ihn. Naughty ist das schwarze Scharf in der Bärengesellschaft – was seiner Psyche offenbar nicht ganz gut tut. Also zieht der Außenseiter los, rüstet sich mit Schuss- und Hiebwaffen aller Art aus und dezimiert die Bewohner der Insel nach allen Regeln der Kunst.

Allerdings ist in „Naughty Bear“ nicht das bloße Töten an sich gewinnbringend, sondern die Art und Weise, wie man seine Opfer leiden lässt. Herzstück des Spielprinzips ist ein Punktezähler, der jede einzelne Aktion von uns kommentiert und honoriert. Je gemeiner wir uns verhalten, desto mehr Punkte gibt es und je schneller wir die Gemeinheiten hintereinander reihen, desto höher wird der Multiplikator. Wenn wir zum Beispiel uns an einen Bären heranschleichen und mit tödlichen Folgen einen Säbel durch seinen Plüschkörper rammen, bekommen wir nicht so viele Punkte, als wenn wir ihn zunächst terrorisieren. Beispiel: Wir kappen eine Telefonleitung und verstecken uns im Gebüsch. Ein Bär sieht das sabotierte Telefon und macht sich an die Reparatur. Wir schleichen uns an und erschrecken ihn, daraufhin läuft er panisch los und schreit um Hilfe. Als er mitten auf den Platz läuft, wo sich ganz viele andere Bären befinden, reißen wir uns das aufgescheuchte Opfer herum und schlagen seinen Plüschkopf vor den Augen anderer mit einem Baseballschläger zu Brei. Alle bekommen Panik und beginnen wild umherzulaufen. Als wir dann noch ein beängstigendes Brüllen von uns geben, ist das Chaos perfekt. Der Punktezähler rotiert.

Nach einer Zeit stellt sich heraus, dass der grösste Reiz des Spiels in dem Verhalten der KI liegt. Es macht herrlich Spaß die Bären dabei zu beobachten, wie sie auf die Einflüsse in ihrer Umwelt reagieren. Dabei sind ihre Reaktionen nicht gescriptet und unterlaufen so vielen Variationen. Es kann sein, dass ein Bär beim Anblick eines zerstörten Gegenstandes Angst bekommt und sich sofort versteckt. Oder aber er trommelt seine Freunde zusammen und macht sich auf die Suche nach Naughty. Das Spiel lädt dazu ein die vielen Möglichkeiten, die die Spielewelt bietet, auszuprobieren und herauszufinden, was in welcher Situation die meisten Punkte bringt und was man alles in eine Todesfalle umfunktionieren kann. Man kann alle Bären erschrecken und quälen, sie aber alle am Leben lassen. Sie schnell hintereinander abschlachten oder ohne dass die anderen davon mitbekommen einzeln nacheinander töten. Es geht sogar so weit, dass man Bären in den Wahnsinn treiben kann – bis sie sich selbst umbringen.

Wie man persönlich auf die Diskrepanz zwischen Knuddeloptik und extremer Gewalt reagiert, ist sicherlich maßgeblich davon abhängig wie die eigene Beziehung zu Teddybären in der Kindheit war. Wer in ihnen Beschützer und Freunde gesehen hat, wird vermutlich verstört auf das Spiel reagieren. Diese Provokation dehnen die Entwickler von Artifical Mind and Movement bis aufs Äußerste aus und so haben sie alles getan, um die Welt von „Naughty Bear“ wie eine Fernsehsendung für Kleinkinder aussehen zu lassen. Von der reduzierten Grafik über die Kindermusik bis hin zum übertrieben deutlich artikulierenden Sprecher setzt das Spiel alles darauf an auf den ersten Blick so niedlich und kindgerecht wie möglich zu wirken. Die audiovisuelle Aufmachung entspricht nicht unbedingt der Erwartungshaltung von technikfixierten Spielern, doch sie ist in Anbetracht des Konzepts auf ihre Weise treffend und detailverliebt. Merken tut man dies erst an vielen Kleinigkeiten, etwa den kleinen Blubberbläschen über den Köpfen, wenn Bären wahnsinnig geworden sind, oder der sich proportional zum Multiplikator verzerrenden Musik. Selbst augenzwinkernde Referenzen wurden eingebaut, etwa zerstörbare Viva Pinatas oder humorvolle Abwandlungen charakteristischer Hinrichtungen von Spieletiteln, die durch ihre Gewaltdarstellung von sich reden gemacht haben. Schade, dass das Spiel von einigen Kameraproblemen und kleineren Rucklern heimgesucht wird, aber die Probleme sind nicht so gravierend, als das es das Spiel ungenießbar machen würde.

Wie unterhaltsam man „Naughty Bear“ finden wird, ist also stark davon abhängig, wie sehr man sich mit dem bitterbösen schwarzen Humor identifizieren kann. Im selben Zuge wird sich auch entscheiden, wie lange man sich mit dem Spiel beschäftigen kann. Denn trotz der experimentierfreudigen Spielewelt und einem standardisierten Multiplayermodus geht dem makaberen Werk bezüglich des Umfangs recht früh die Puste aus. Leider gibt es nur eine Karte, die man mit verschiedenen Aufgaben immer wieder spielt. Die Entwickler haben sich viel Mühe dabei gegeben Naughty verschiedene, hochgradig absurde Gründe zu geben, um ein derartiges Massaker zu veranstalten. Ob Belagerung vom Militär, eine Zombieplage oder eine Invasion von Außerirdischen: Die einzige Inselwelt im Spiel variiert je nach Situation und bietet regelmäßig neue Hürden und Herausforderungen. Allerdings ist das bei weitem nicht ausreichend, um das Defizit des geringen Umfangs auszugleichen. Man kann sich nicht gegen den Eindruck wehren, dass „Naughty Bear“ eine KI-Spielwiese ist, die notdürftig zu einem Spiel ausgebaut worden ist.

Allerdings: Die Spielwiese funktioniert und ich persönlich hatte einen Heidenspaß mit diesem ironischen, völlig verrücktem Spiel. Angesichts der vielen schlechten Kritiken befürchte ich aber, dass es keine Fortsetzung von Naughty`s sadistischem Treiben und somit keine Chance auf eine Weiterentwicklung des Konzepts geben wird. Das ist schade, denn dieser polarisierende Titel geht trotz seines geringen Umfangs mehr Wagnisse ein und zeigt mehr Kreativität als die meisten anderen Videospiele, die sich derzeit auf dem Markt befinden.