Wenn man nur vom Konzept ausgeht, müsste man den Entwicklern des französischen Studios Beyondthepillars samt und sonders Tapferkeitslametta an die Brust hängen. Ihr Taktik-RPG dreht sich nicht um epische Schlachten zwischen Fantasyreichen. Winter Voices erzählt von einer jungen Frau in einem abgeschiedenen Bergdorf, die über den Tod ihres Vaters hinwegkommen muss. Avalanche bildet dabei den Prolog zu einer siebenteiligen Spielereihe, die über das Internet vertrieben wird.

Rundenbasierte Kämpfe dienen als Metapher für die Schlacht, die im Inneren der Protagonistin tobt. Schemen, Schatten und Flammen repräsentieren Halluzinationen und Alpträume. Das Betreten des falschen Feldes triggert keine Falle, sondern brutale Erinnerungen. Dabei ist man immer nur in der Defensive – ein Sieg durch Kampf ist zumindest in Avalanche nicht vorgesehen.

Der ganze Rollenspielsystem im Hintergrund wurde liebevoll für die Bedürfnisse des Spiels angepasst. Besonders das Erinnerungsvermögen tritt als zweischneidiges Schwert hervor. Kämpfe und Gespräche liefern mehr Erfahrungspunkte, gleichzeitig gewinnen die inneren Dämonen an Stärke. Sich dem Vergessen zu hinzugeben, macht das Spiel deutlich einfacher – die höheren Fertigkeiten, die sich entlang der Verknüpfungen eines überdimensionalen Schneekristalls freischalten lassen, bleiben einem jedoch verschlossen.

Mein Über-Ich greift an und verursacht 3W6 Punkte Schaden

Was soweit durch und durch faszinierend klingt, wird zur großen Enttäuschung, sobald man damit beginnt, Winter Voices tatsächlich zu spielen. Denn die taktischen Rundenkämpfe, in denen es meist das Ziel ist, ein vorgegebenes Spielfeld zu erreichen oder eine bestimmte Anzahl von Runden zu überstehen, ist komplett spaßfrei. Weder Verdrängung, noch selektive Wahrnehmung, helfen über die traumatischen Designfehler hinweg, die das Team von Beyondthepillars auf den nichtsahnenden Spieler losläßt.

Die auf den ersten Blick charmanten, gemalten Hintergründe bleiben seltsam starr und leblos. Ein atmosphärischer Geräuschteppich fehlt völlig, man hört keinen Wind und auch Schritte bleiben. Immerhin werden Zwischensequenzen und Kämpfe von erstklassigen Tracks untermalt, die mich stark an isländische Künstler wie Björk erinnert haben.

In den Taktikrunden geht es erstmal nur darum, bestimmte Felder zu erreichen oder eine definierte Zeit durchzuhalten. Während die Gegner schön nacheinander ihre quälend langsamen Animationsphasen durchspielen kann man sich immerhin in Ruhe die ein oder andere Tasse Nerventee aufbrühen. Okay, dieses Problem plagt auch die Großkaliber des Genres wie Final Fantasy Tactics, also Schwamm drüber. Nach einer Aufwärmphase bringt Avalanche allerdings noch einen nicht zu unterschätzenden Puzzlefaktor mit auf das Schlachtfeld. Bis man erstmal ausgeknobelt hat, was das Spiel von einem will, geht so manche Runde ins Land. Und selbst wenn der Groschen einmal gefallen ist, gehört eine gehörige Portion Ausdauer dazu, die Siegbedingungen zu erreichen.

Oh kalte Sterne, die ihr, ach, zum Sonnenaufgang hin dem süßen Freitod entgegenstrebet

Den endgültigen Todesstoß erhält das Spiel aus der Ecke, in der man seine größte Stärke vermutet hätte. Jemand hätte die Autoren der Geschichte beizeiten einen Rotstift schenken sollen, denn an jeder Ecke wird der Spieler durchfallartig mit überladener Poesie beschossen. Zu Beginn fühlt sich das noch alternativ und cool an, als wäre man versehentlich in die Lesung eines Undergroundpoeten gestolpert. Dann merkt man schnell, dass es sich wohl doch eher um den kreativen Schreibkurs von der VHS handelt und man sich nicht so wirklich sicher ist, ob die endlosen Texttafeln oder gelangweilte Sprecher das kleinere Übel sind.

Winter Voices: Avalanche kann für weniger als 5 Euro von der offiziellen Webseite heruntergeladen werden. Trotzdem empfehle ich nur absolut frustresistenten Taktikfans ein Blick auf dieses Spiel. Sollten die französischen Entwickler für die erste „richtige“ Episode von Winter Voices ordentlich den Rotstift kreisen lassen und die Rundentaktik überarbeiten, werde ich mit Freuden noch einmal die Kreditkarte zücken. Dann wäre es endlich das Spiel, was Trailer und Artworks versprechen – etwas ganz Besonderes.