Manu:
Kann ein Spiel pietätlos sein? Wie viele eurer virtuellen Ur-Großväter habt ihr schon in WWII-Spielen niedergestreckt? Wie viele Orks und Elfen habt ihr in Fantasy-Schlachten mit einem Zweihänder schon dezent um einen Kopf kürzer gehobelt? Wieviele Passanten in GTA überfahren und wie viele Verkehrstote gab es auf den illegalen Straßenrennen in eurer Karriere? Ich muss das Polyneux- und Kollisionsabfrage-Lesern wahrlich nicht erklären, Spiele sind kein Abbild der Wirklichkeit, Spiele überzeichnen und spitzen zu. Für den größtmöglichen WOW-Effekt – dafür lieben wir Spiele. Doch manchmal holt die Realität selbst die übertriebenste Fiktion ein. Das stärkste Beben in der Geschichte Japans hat das Land verändert und unzählige Menschen in den Tod gerissen. Das Land steht durch brennende Kernkraftwerke vor einem atomaren Super-GAU und zu allem Übel bricht noch ein Vulkan aus. Diese zeitlich so dichte und in dem Ausmaß so heftige Aneinanderreihung von Katastrophen würden wir in jedem Film oder Spiel als zu “zu dick aufgetragen” bezeichnen.

Das Timing kann manchmal ganz schön tricky sein. Das britische Entwicklerstudio Evolution Studios hatten für den neuen, dritten Teil der Motorstorm-Reihe den 16.3.2011 als Veröffentlichungstermin geplant gehabt. In Neuseeland wurde der Release bereits aufgrund eines schweren Erdbebens im Februar auf unbestimmte Zeit verschoben. Warum? Nun, in Motorstorm: Apocalypse geht es um Offroad-Racing in einer von Erdbeben zerstörten Stadt, inklusive Sprünge über brennende, eingestürzte Wolkenkratzer, einbrechende Tunnelsysteme, überschwemmte Küstenstädte und jede Menge Trümmer. Und dann, unmittelbar vor dem anstehenden, weltweitem Release wird auch Japan von dem ungeheuren Erdbeben am 10.3. erfasst. Auch hier wurde selbstverständlich die Veröffentlichung umgehend gestoppt.

Natürlich ist es der richtige Schritt, ein Spiel, in dem die Zerstörungswut der Natur das zentrale, treibende Thema ist, nicht wenige Tage nach einer so schweren Krise zu veröffentlichen und zu bewerben. Schon allein aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist dies für Sony, immerhin auch eine japanische Firma, natürlich völlig indiskutabel. Das Spiel an sich ist deswegen aber noch lange nicht pietätlos. Es jetzt in Japan zu veröffentlichen, wäre es dagegen sehr wohl.

Micha:
Dabei spielt bei der vorläufigen Verschiebung des Releasedatums weniger der Inhalt des Spiels eine Rolle, sondern eher der Eindruck, den das Produkt auf Außenstehende macht. Betrachtet man Motorstorm Apocalypse genauer, hat schon die Präsentation generell wenig mit der Realität gemein: Bereits das Szenario, ein halsbrecherisches Autorennen innerhalb einer einstürzenden fiktionalen Stadt zu veranstalten, ist mehr als hanebüchen und wird von – vermutlich absichtlich trashig-schlecht animierten – Comicsequenzen entsprechend illustriert. Auch die Darstellung der Naturkatastrophen ist näher an einem Kinofilm von Roland Emmerich dran, als an der erschütternden Realität. Die Entwickler sind nicht den physikalischen Gesetzen echter Naturereignisse nachgegangen, sondern inszenieren ganz nach dem angestrebten Begeisterungseffekt beim Rezipienten. Banal formuliert sieht Motorstorm Apocalypse so aus, als würden kleine Kinder mit heller Begeisterung ihre Sandkastenstadt zerstören. Nur eben als Videospiel mit entsprechenden Mittendrin-Faktor.

Hunger, Durst, Obdachlosigkeit, Krankheit, Perspektivenlosigkeit, Tod. All diese Dinge thematisiert das Spiel selbstverständlich nicht, was gleichzeitig auch bedeutet, dass sie nicht verharmlost oder beschönigt werden. Das kann ein Außenstehender, vor allem Personen, die von Videospielen wenig verstehen, allerdings nicht wissen. Schon der Titelzusatz “Apocalypse” kann dementsprechend Wut und Unverständnis angesichts des aktuellen Weltgeschehens hervorrufen, obwohl weder das Produkt, noch die Entwickler böse, gar respektlose Absichten verfolgt haben. Eine Verschiebung des Releasedatums hat in diesem speziellen Fall dementsprechend nur positiven Effekt für alle Beteiligten. Und Unbeteiligten.

Manu:
Während MotorStorm einen großen Bogen um die Auseinandersetzung mit der Zerstörung macht, plante der Entwickler Irem mit Disaster Report 4 ein Spiel mit Fokus auf die Auswirkung einer Erdbeben-Katastrophe auf die Bewohner einer Großstadt. Ziel des Spiels wäre gewesen, das eigene Überleben zu sichern und einen Ausweg durch die Ruinen und den lauernden Gefahren zu finden. Bonuspunkte hätte es für das Retten von Bedürftigen gegeben. Auch hier hätte sich die Frage gestellt, welche Wirkung, welches Signal die Veröffentlichung eines solchen Spiels zu diesem Zeitpunkt gehabt hätte. Auch Disaster Report 4 wäre dem Anschein nach nur ein weiteres Open-World-Spiel mit den klassischen Spiele-Mustern geworden. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob sich das Spiel ernsthaft mit Verlust und Trauer, Massenpanik und allgemein Menschen in Extremsituationen auseinandergesetzt hätte. Ja, es gibt das Genre der Serious-Games, aber nicht im großen kommerziellen Rahmen. Unter diesen Aspekten scheint die Einstellung des Projektes mehr als nachvollziehbar und folgerichtig. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um einen japanischen Entwickler handelt. Welche Zielgruppe hätte so ein Spiel nach den aktuellen Ereignissen denn? Ganz nüchtern betrachtet hat ein Projekt mit diesem Setting auch aus rein wirtschaftlichen Aspekten keinen Sinn mehr.

Warum aber schaffen es Filme, über Unglück, Tod und Leid so viel besser beim Betrachter Emotionen zu erzeugen als Spiele? Ein Film über den 11.September in USA war relativ schnell nach den Ereignissen in den Kinos, ein Spiel über diese Anschläge wäre zum jetzigen Zeitpunkt undenkbar und ein Riesen-Skandal.

Micha:
Mit ähnlichen Fragen werden sich auch die Entwickler der angekündigten Spiele I am alive und Yakuza: of the End derzeit auseinandersetzen müssen. Während bei dem weniger ernst zu nehmenden Zombie-Spinoff der in Japan äußerst erfolgreichen Yakuza-Reihe die Komplikationen eher in der unter anderen Umständen bestaunenswerten Ähnlichkeit zu Tokios realen Innenstadt zu suchen sind, drängt sich gerade bei dem Announcement-Trailer von Ubisofts Produkt die Frage, wie respektvoll mit den Opfern aus der Zivilbevölkerung umgegangen wird. Zu sehen ist ein Protagonist, der mehrere Männer mit einer Flasche Wasser auf einen Glasboden lockt, der daraufhin einstürzt und sie allesamt in den Tod reißt. Sicherlich angelehnt an die Kastastrophen-Filme aus den 70ern ist der von Western inspirierte Kampf ums Überleben in Krisensituationen vor allen angesichts der internationalen sozialpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre längst nicht mehr zeitgemäß, gar angebracht. Das ist selbstredend momentan nur Spekulation anhand eines kurzen Trailers, doch gemessen an den bisherigen Spielen von Ubisoft lässt sich diese wenig lobenswerte Marschrichtung bereits erahnen. Vorausgesetzt, dass nach der Katastrophe in Japan das Projekt nun nicht noch länger in der Produktionshölle verharrt, bleibt davon auszugehen, dass frappierende Ähnlichkeiten zu “Disaster: Day of Crisis” bestehen werden – ein Spiel, in dem mehr Menschen erschossen als gerettet werden.

Unabhängig von aktuellem Weltgeschehen findet in Spielewelten der respektvollste Umgang mit Katastrophen und deren Opfer in “Emergency” statt, einer Echtzeitstrategie-Reihe, in der – nicht wie sonst im Genre üblich – keine Soldaten zum Töten und Zerstören kommandiert werden, sondern Rettungseinheiten. Die Szenarien reichen von “einfachen” Unfällen bis hin zu Naturkatastrophen, die vor allem in dem aktuellem Teil “Emergency 2012” auf die Spitze getrieben werden. Im Gegensatz zu den genannten Beispielen aus dem Action-Genre ist die Inszenierung eher nüchtern. Ob der Rollen- und somit auch Perspektiventausch eine Rechtfertigung einer vom Weltgeschehen unabhängigen Veröffentlichung ist, sei dahingestellt. Fakt ist aber auch hier: Auch wenn wir bei Emergency inhaltlich gute Absichten verfolgen und den Retter spielen, bei einem hypotetischen Release eines Sequels in dieser Woche würde ebenso Kopfschütteln die Reaktion sein.

Kehren wir zur Eingangs gestellten Frage zurück: Kann ein Spiel tatsächlich pietätlos sein? Trotz aller Kritik und von Produkt zu Produkt schwankenden moralischen Bedenken wird die Antwort letztendlich “nein” lauten. Sicher, die Themenwahl könnte in vielen Fällen gegenteiliges suggerieren, aber seien wir ehrlich: Wann hat zum letzten Mal in einem kommerziellen Produkt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit authentischen Geschehnissen stattgefunden? Es gibt einige Spiele, die sich in unser Herz gebrannt haben, weil sie uns umfangreich und tief emotional berührt haben, doch deren Szenarien waren in einer Fantasiewelt angesiedelt oder Handlung und Figuren waren völlig frei erfunden. Autobiografische “große” Spiele im wortwörtlichen Sinn gibt es nicht; eine sensible, gar differenzierte Auseinandersetzung mit einem tragischen Ereignis schon gar nicht. Spiele lassen sich höchstens von Ihnen inspirieren und formen daraus eine Achterbahn: Eine Installation, bei der jeder zum Spaß einsteigen kann, jeder etwas Angst vor dem ersten großen Abhang hat, danach aber kontrolliert durch Höhen und Tiefen geleitet wird. Mit weichen Knien steigt man wieder aus, vergisst die Anspannung ein paar Minuten später und sucht die nächste Attraktion auf.

Auch wenn viele Spieler sich wünschen, ihr Lieblingsmedium würde kulturell ernster genommen werden, sind sie bei so schweren Katastrophen wie dieser Tage vielleicht sogar ein wenig froh, dass Spiele derzeit zu infantil sind, um Abseits ihres Namens und Settings für Aufruhr zu sorgen. Und nun mal ganz unter uns: Letztendlich sollte es aber ohnehin eines der geringsten Sorgen sein, die einen zur Zeit beschäftigen, oder?

Dieser Artikel ist in Kooperation mit unseren Freunden des Blogs Polyneux entstanden und wird auch dort zeitgleich veröffentlicht. Danke an Manu für die gute Zusammenarbeit!