Marketing lügt. Immer. In der Gaming-Welt hätte Pinnochio´s Nase diese bereits mehrfach umrundet. Grundsätzlich gilt: Je kostenaufwändiger die Produktion, desto länger der Zinken. Doch mit dem gestiegenen Aufwand der letzten Jahre reicht es offenbar nicht mehr aus, Pre-Render-Filme als Spielgrafik zu verkaufen, versprochene Features auszulassen oder in hohen Tönen von neuen Maßstäben, gar Revolutionen zu schwärmen. Das Publikum härtet ab, größere Geschütze müssen aufgefahren werden. Da verwundert es wenig, dass künstlich erzeugte Aufreger nun mit einer gewissen Regelmäßigkeit einen festen Platz in der Vorberichterstattung für sich beansprucht haben. Call of Duty hat seit dem ersten Modern Warfare ein solches Element, was mit jedem weiterem Sequel sowohl obligatorischer, als auch deplatzierter wirkte. Jüngst wurde eine geschmacklose Büste einer verstümmelten Frauenleiche, Pardon, eines weiblichen Zombies mit Bikini diskutiert, die einer Sonderedition von Dead Island: Riptide beiliegen sollte. Und auch bei dem Reboot von Tomb Raider wurde lange, wirklich lange vor der Veröffentlichung des eigentlichen Spiels über eine Vergewaltigungsszene diskutiert, die noch nicht einmal im Spiel als solche auftaucht.

Ein künstlich erzeugter Skandal ist ein Verrat an den Anstand oder guten Geschmack. Manchmal sogar beides. Aber es ist ein kleines Verbrechen, das sich auszahlt: Die öffentliche Echauffierung bewirkt eine effiziente Mundpropaganda, die sogar Personen erreicht, die sich per se vorher noch nicht einmal für das entsprechende Spiel interessiert haben. Die Entourage ist dabei entscheidend, und diese ist bei Videospielen bekanntlich noch verhältnismäßig klein. Über die Diskussion über den Sexismus in Videospielen etwa weiß die gesamte spielende Gemeinde unabhängig von der individuellen Meinung seiner Mitglieder weitestgehend Bescheid. Ein durch das Marketing geworfener Stein in den überschaubaren See erzeugt Wellen bis zu den äußersten Ufer-Bereichen. Von der Leichen-Büste hatte jeder gehört; aufwirbelnder sind die Schwingungen aber selbstredend bei populären Titeln, die ohnehin eine grundsätzlich höhere Aufmerksamkeit bei Medien und Rezipienten besitzen, wie es zum Beispiel bei Tomb Raider der Fall war.
Außerhalb der Spielergemeinde ist der Effekt so gut wie gar nicht spürbar. Aktive Feministen beispielsweise bekämpfen zunächst die Zustände in wichtigeren Lebensbereichen, etwa Beruf oder gar Religion. Ein verzerrtes Frauenbild in Videospielen, das sich im geringsten Fall in einem zu offenherzigem Top einer gut ausgestatteten Lara Croft manifestiert und im schlimmsten Fall die Frau zum Objekt degradiert, ist da – Anita Sarkeesians lobenswerter Bemühungen zum Trotz – nur der kleinste Dorn im Auge. Das ist schwer vorstellbar wenn das eigene Leben stark von Spielen geprägt ist; aber viele Menschen können – und dies sei hier völlig vorurteilsfrei festgestellt – aus dem Gedächtnis heraus kaum Mario und Luigi voneinander unterscheiden.

Der Tenor in den anschließenden öffentlichen Entschuldigungen suggeriert ein Versehen. Ein Fehltritt, den „man so hat nicht kommen sehen“, da man ja „das Beste für die Fans“ tun wollte. Tatsächlich sind Marketingmenschen entgegen der weit verbreiteten Meinung weder weltfremd, noch müssen sie sich mit den Produkten in irgendeiner Form selbst identifizieren. So viel Abstraktionsvermögen verlangt die Professionalität in diesem Beruf. Viel warme Leidenschaft für die Gestaltung von Werbung bedeutet gleichzeitig eiskalte Kalkulation von Aktionen und Reaktionen: Formulierung des Signals, kontrollierte Aussendung, als auch die Beobachtung des Echos in von Blogs und Presse berührten Bereichen auf diversen Socializing-Plattformen. Messerscharf und rücksichtslos.

Das Marketing nutzt auf diesem Wege die prekäre Lage aus, in der sich vor allem kommerzielle Online-Redaktionen befinden: Um mehr Klickzahlen zu generieren, werden nicht nur die noch so erbärmlichen Fetzen an Neuigkeiten oder die diffusesten Gerüchte veröffentlicht, sondern schon kleinere, potentielle Reizthemen werden mehr oder weniger subtil skandalisiert. Aus einer Mücke wird ein Elefant gemacht, in der Hoffnung, der Kommentarbereich möge sich aufblähen und das Link-Karussell durch Twitter, Facebook & Co regelrecht rotieren.

Und es funktioniert öfter, als die menschliche Vernunft eigentlich zulassen sollte: Ob Videospieldesigner über ihre Kollegen monieren, ein Publisher noch vor Release Pläne für Zusatzinhalte verlauten lässt oder schlicht ein Termin verschoben wird: Wer nicht unmittelbar mit einem Kommentar unter einer Meldung Stellung bezieht, erzählt es zumindest weiter. Es herrscht ein unglaubliches Bedürfnis im Menschen gut informiert in seiner bevorzugten Interessensgruppe aufzutreten und einen Disput nicht nur anzuregen, sondern am Ende gewissermaßen sogar zu dominieren. Wer keine Meinung hat, ist aus der Runde raus; daher ist es im Zweifelsfall sogar von Vorteil, einfach eine zu adaptieren und sich der Mehrheit anzuschließen. Die Kombination aus Presse und dieser Sorte kompetenzeifernder Leser macht es dem Marketing in der Latenzphase einfach, einen Skandal sorgsam zu formen. Aber für ein Schlüsselereignis müssen die Vorbereitungen dazu noch nicht nicht aus eigenem Hause stammen: Die Sexismus-Debatte kam vor allem durch einen Trailer zu Hitman: Absolution ins Rollen, der eine Reihe von Auftragskillerinnen in sexualisierten Outfits zeigte, die äußerst brutal von dem Protagonisten umgebracht wurden. Für die Marketingabteilungen von Square Enix war es also ein leichtes die Lawine mit weiteren Brocken zu bestücken. Den Berg hinabrollen würde sie ohnehin.

Schon fast trivial dabei: Skandale, ob bewusst oder unbewusst erzeugt, wurden in den letzten Jahren vornehmlich an Spielen beobachtet, die ohnehin an ein erwachsenes Publikum gerichtet waren. Aufreger und Debatten über Gewaltdarstellung oder sexuelle Inhalte sind für den Werbeeffekt schon insofern progressiv, als das fortlaufend immer mehr von dem potentiellen Zielpublikum Wind von dem Produkt bekommt. Damit umgeht eine Agentur sogar die Problematik, die durch anstößige Anzeigen entstehen könnte. Auf heikle Aspekte eines Spiels darf schon aufgrund des Jugendschutzes nicht direkt hingewiesen werden. Durch einen öffentlichen Disput innerhalb der Spielergemeinde wird diese Hürde allerdings auf perfide Art überwunden. Schließlich tragen keine offiziellen Stimmen einer Firma die Informationen weiter, sondern sie gelten lediglich als Stichwortgeber. Das Renommee bleibt intakt, und trotzdem wurde bei Interessenten deftiger Unterhaltung die Aufmerksamkeit geweckt. Das gilt vor allem für Spieler, die noch nicht volljährig sind.

Klingt die öffentliche Reaktion ab, so hat die Abschwungphase begonnen. Aber selbst über den Release eines Spiels hinaus lässt sich die vorherige, brisante Etablierungsphase allerdings noch verlängern, in dem einfach etwas mehr Öl ins Feuer gekippt wird. PR-Sprecher oder Entwickler kommen in Interviews zu Wort, beziehen Stellung zu Vorwürfen oder gehen auf den allgemeinen Tenor der Rezensionen ein. Die Autorin Rhianna Pratchett verteidigte zum Beispiel auch nach der Veröffentlichung von Tomb Raider vehement die Gestaltung ihrer Version von Lara und zog den Vergleich mit anderen Spielen. Die angebliche Vergewaltigungsszene wurde durch die Berichterstattung zu diesem Zeitpunkt als Schwindel entlarvt, doch Pratchett hält trotz ludonarrativer Dissonanz an den bewusst eingesetzten, auf sexistischen Klischees beruhenden weiblichen Schwächen in der Charakterzeichnung fest. Es spielt keine Rolle ob sie tatsächlich von ihrer Arbeit überzeugt ist: Die PR hat jederzeit die Entscheidungsgewalt darüber, welche Aussagen von der Autorin veröffentlicht werden. Ein Segen, wenn sie vor laufender Kamera tatsächlich glaubt, was sie sagt. Oder man es zumindest so inszeniert.

Irgendwo zwischen diesen ganzen Inszenierungen gibt es auch Skandale, die niemand wollte. Hart getroffen hat es vor einigen Jahren das japanische Survival Horror-Spiel Rule of Rose des Entwicklers Punchline. Hinter der Fassade eines düsteren Märchens beschäftigt sich das Werk mit kinder- und sozialpsychologischen Hintergründen mehrerer junger Mädchen in einem Waisenhaus. Pubertät, sexuelle Annäherungen, Mobbing, Tierquälerei. Keines dieser Aspekte wird plakativ als Effekt eingesetzt, wohl aber subtil in der Handlung angedeutet. Die bloße Nennung der Begriffe „Kinder“, „Gewalt“ und „Videospiel“ in einem Satz hat aber Franco Frattini, den europäischen Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit, dazu bewogen eine Kontroverse vom Zaun zu brechen, die dem Verkauf des Spiels das Genick brechen sollte. Weitere Stimmen von offiziellen Stellen wurden laut, u.a. forderten drei französische Polizeibeamte zur Beschlagnahmung auf, da man im Spiel dazu getrieben werde „to rape, beat up and kill a little girl“. Wie sich später herausstellen sollte, gab es keinerlei solcher Szenen oder Implizierungen, aber der böse Leumund wurde bereits erlangt.

Nach mehreren öffentlichen Debatten und Forderungen nach Verboten brachen Sony, Atlus und 505 Gamestreet ihre Kampagnen in Europa und den USA ab. Beschmutzen wollte sich schließlich niemand mit einem Spiel, das nach öffentlicher Meinung Kindesmisshandlungen enthält – völlig unabhängig davon, ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht. Verkauft wurde das Spiel nur in vereinzelten Ländern, erlangte in Deutschland eine für Horrorspiele nicht ungewöhnliche Einstufung ab 18 Jahren und gilt bei Kennern wegen seiner Parallelen zu Wedekind´s Frühlings Erwachen und Guillermo del Toro‘s Pan‘s Labyrinth als gutes Beispiel für gelungene Dramaturgien in Videospielen. Aller guten Absichten zum Trotz wird das Spiel aber vor allem wegen seinem Eklat in Erinnerung bleiben. Punchline, die schon mit dem ambitionierten PS2-Spiel Chuvlip aufgefallen sind, verschwanden nach all der Aufregung selbstverständlich von der Bildfläche.

Als letzter Akt steht die Rehabilitationsphase, in der der Konflikt zumindest aus der Sicht der Medien verschwunden ist. Aus den Augen, aus dem Sinn, sozusagen. Die Kritikerstimmen von Tomb Raider und die Verkaufszahlen von Call of Duty sind nur zwei berühmte Beispiele dafür, dass ein Skandal in der Vorberichterstattung selten negativen Einfluss hat, oder diese gar stimuliert hat. Während in einigen Büros daraufhin die Sektflaschen geöffnet werden, haben die eigentlichen Entwickler einige Herzanfälle überstehen müssen: Über ihre Köpfe hinweg wurde entschieden, ihr Kind von der denkbar schlechtesten Seite, streng genommen sogar einer Lüge öffentlich degradierend zur Schau zu stellen. Auch wenn zum Schluss die Kohle stimmt: In den Träumen verwegener Gamedesigner-Romantik hat man sich das sicher anders vorgestellt.