Murasaki Baby hat die mitunter hässlichsten Protagonisten, die man sich vorstellen kann.

Potthässlich.

Es sind Missbildungen, bei denen der Mund auf der Stirn sitzt, mit viel zu großen Köpfen, irren Augen und streichholzdünnen Ärmchen. Ihre Stimmen sind verzerrt, ihr Kreischen, Weinen, Lachen provoziert Gänsehaut. Darüber hinaus ist ihr Verhalten hochgradig geistig gestört, mit Anflügen von Sadismus, Depression und Selbstzerstörung. Allesamt leben sie in in einer bizarren Dimension des Irrsinns, in denen sich Fragmente aus traumatischen Kindheitserlebnissen, realitätsverzerrenden Fieberfantasien und düsteren Märchengestalten zu einer schwer mit dem Verstand fassbaren Alptraumwelt zusammensetzen. Nichts an diesem Spiel scheint angenehm zu sein, alles ist krank und unwirklich. Und doch und deshalb ist Murasaki Baby eines der ergreifendsten Spielerlebnisse, die ich je erleben durfte.

Der ungewöhnliche Puzzle-Plattformer geht dabei einer einfachen, wie bedeutsamen Frage nach: Wo ist meine Mutter? Murasaki ist ein kleines, weibliches Geschöpf, dass einen pinkfarbenen Ballon in Herzform bei sich trägt, den es unter keinen Umständen verlieren darf. Zerplatzt oder fliegt er davon, verliert die Kleine allen Mut und sinkt heulend zu Boden. Selbstständig bewegt sie sich nicht vorwärts. Man muss Murasaki an die Hand nehmen und sie behutsam leiten. Zieht man zu sehr, lässt sie los und bleibt stehen. Das Gefühl Verantwortung für das bizarre, aber auch unschuldige Wesen zu tragen, ist sofort gegeben.

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Massimo Guarini hat als Art Designer an Killer7, Shadows of the Damned und No More Heroes gearbeitet und folgt der visuellen Linie von dem leider schon vor einigen Jahren verstorbenen Edward Gorey. Herausragend ist auch das bizarre Sound Design, was auf irritierende Effekte und Verzerrungen setzt. Das Akira Yamaoka dazu noch die Musik für den Abspann geschrieben hat, wirkt nahezu konsequent.

Das wird vor allem durch die Touch-Steuerung gefördert, die sowohl Vorder- als auch Rückseite der PS-Vita nutzt. Mit dem Finger Murasakis Hand zu nehmen, fliegende Windelnadel-Wesen zerdrücken oder Plattformen verschieben – das Spiel lässt einem direkt in die Welt eingreifen. Das geht sogar so weit, dass sich auch die Bildschirmhintergründe mit einer Wischbewegung auf der Rückseite austauschen lassen. Damit lässt sich nicht nur die Stimmungslage von Murasaki beeinflussen, sondern man erhält Zugriff auf umgebungsbeeinflussende Ereignisse. So kann man eine gigantische Wand aus Fernsehern einschalten, um eine im Weg stehende Kreatur abzulenken. Oder man erzeugt einen Schneesturm, um Gegenstände einfrieren zu lassen. Das Spiel ist zwar nie besonders schwer oder verzwickt, im Einsatz seiner Mechaniken aber dennoch einfallsreich und kurzweilig.

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Die grösste Stärke des Spiels ist aber, dass ich innerhalb kürzester Zeit mit seinen Charakteren eine Beziehung aufbauen kann und sie kleine, herzerwärmende Geschichten erzählen. So hilflos und ängstlich Murasaki prinzipiell auch ist: Auf ihrer Suche hilft sie mit offenem Herzen anderen Figuren, die allesamt Probleme haben, die jedes Kind kennt. Die Furcht vor Monstern, Neid und Missgunst unter Geschwistern, oder die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Die grösste Angst hat aber Murasaki selbst: Ablehnung, das Gefühl zu niemandem zu gehören, verloren zu sein in einer gigantischen Welt, die Zähne hat. Es spielt keine Rolle, ob sie so aussieht wie die Ausgeburt eines schlechten Traumes: Wenn Murasaki an der Schwelle einer Tür in die Dunkelheit hinabblickt und mit einer Stimme irgendwo zwischen Schrecken und naiver Neugier nach ihrer Mutter ruft, ist die Distanz zwischen mir und diesem unschuldigen Wesen gebrochen.



Murasaki Baby
Murasaki Baby ist mit seinen knapp drei Stunden Spielzeit leider sehr kurz, aber es ist künstlerisch, wie inhaltlich ein beeindruckendes Experiment. Das Spiel weckt Mitleid, Fürsorge, Empathie und ist eine interessante Studie zum Thema "Vertrauen". Das ist weitaus mehr, als die meisten Spiele heutzutage erreichen.


8Gesamtwertung